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Das Phänomen Verkehr

Fassung vom November 2000

Rudolf Pfleiderer
Florian-Geyer-Str. 8
70499 Stuttgart

1.     Die Verkehrszunahme

 

Früher, als es noch keine Verkehrsmittel gab, sind die Menschen pro Tag etwa fünf Kilometer weit gelaufen. Heute legt ein typischer Erwachsener ungefähr 50 Kilometer pro Tag zurück. Das heißt, die Verkehrsleistung, gemessen in Personen-Kilometern, hat sich verzehnfacht.

 

Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man sich darüber im Klaren sein, dass der zurückgelegte Weg, also die Verkehrsleistung s, das Produkt aus Geschwindigkeit v und der im Verkehr zugebrachten Zeit T ist:

 

                        s = v · T                                  

 

Je höher die Geschwindigkeit v und je länger die im Verkehr zugebrachte Zeit T ist, um so größer ist die Verkehrsleistung s. Ganz offenbar ist der Grund für die Zunahme des Verkehrs also in erster Linie die Zunahme der Geschwindigkeiten. Zu einem Teil ist das Verkehrswachstum aber auch durch die zunehmende Freizeit zu erklären, von der ein Teil im Verkehr zugebracht wird.

 

Es sind in erster Linie die hohen Geschwindigkeiten, die den Verkehr, wie wir ihn heute kennen, erzeugt haben.

 

Die im Verkehr zugebrachte Zeit hat sich – wie gesagt – im Laufe der Jahre nur leicht erhöht. Dies wurde in umfangreichen Untersuchungen unter anderem von Socialdata, München, erforscht. Die durchschnittlich von den Verkehrsteilnehmern im Verkehr zugebrachte Zeit ist insbesondere unabhängig von der Geschwindigkeit der benützten Verkehrsmittel und wird als Reisezeitbudget bezeichnet. Das Reisezeitbudget von aktiven Berufstätigen liegt im Durchschnitt bei 90 Minuten pro Tag.

 

Das Reisezeitbudget ist eine der wichtigsten Kenn­größen des Verkehrsverhaltens.

 

Es ist keineswegs so, dass Verkehrsteilnehmer, denen besonders schnelle Verkehrsmittel zur Verfügung stehen, deswegen weniger Zeit im Verkehr zubringen. Sie legen vielmehr größere Strecken zurück.

 

Nicht nur das Reisezeitbudget ist unabhängig von der Geschwindigkeit. Auch die Zahl der Wege, die die Verkehrsteilnehmer zurücklegen und die Verkehrsfachleuten als Mobilitätsrate bezeichnen, ändert sich nicht, wenn schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Die Mobilitätsrate von aktiven Berufstätigen liegt bei ungefähr 4 Wegen pro Person und Tag. Überdurchschnittlich hohe Mobilitätsraten haben alleinerziehende, berufstätige Mütter.

 

Die Zahl der Ziele, die die Menschen pro Tag durchschnittlich aufsuchen, ist auch unabhängig von der Geschwindigkeit und liegt bei 1,5 bis 2.

 

Der ganze technische Fortschritt im Verkehrswesen wie die Erfindung des Fahrrads, des Autos und der Öffentlichen Verkehrsmittel hat nicht dazu geführt, dass die Menschen mehr Ziele aufsuchen. Was sich vergrößert hat, ist die Entfernung, die die Menschen zurücklegen. Ob dies positiv zu bewerten ist, muss kritisch hinterfragt werden.

 

Das Verkehrswachstum entsteht dadurch, dass mit den zunehmenden Geschwindigkeiten die pro Ortsveränderung zurückgelegten Strecken immer länger werden.

 

 

2.     Die Zunahme des motorisierten Verkehrs

 

Bild 1 zeigt in vereinfachter Form die Entwicklung der Personenverkehrsleistung im motorisierten Verkehr (ohne Flugverkehr) in den letzten Jahrzehnten.

 

Die MIV-Verkehrsleistung (Pkw, Kombi, Kraft­rad, Moped), auch MIV-Personenverkehrs­leistung genannt, stieg von 30,7 Milliarden Personen-Kilometer im Jahre 1950 auf 628,2 Milliarden Personen-Kilometer im Jahre 1993 (ABL), also auf das Zwanzigfache. Die ÖV-Verkehrsleistung (Bahn, Öffentlicher Straßenpersonenverkehr) stieg im gleichen Zeitraum von 56,5 auf 116,1 Milliarden Personen-Kilometer, also auf das Doppelte. Quelle: Verkehr in Zahlen, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.

 

Außer der MIV-Verkehrsleistung ist die MIV-Fahrleistung dargestellt. Die beiden Verläufe unterscheiden sich um den Besetzungsgrad. Da der Besetzungsgrad von Jahr zu Jahr sinkt, ist der relative Anstieg bei der Fahrleistung noch größer als bei der Verkehrsleistung.

×109 km/a

 

MIV-Fahrleistung sF

 

MIV-Verkehrsleistung  sP

 

ÖV-Verkehrsleistung

 

Bild 1. Entwicklung des motorisierten Personenverkehrs, vereinfachte Darstellung (ABL)

 

Aus dem Diagramm kann zweierlei geschlossen werden:

·       Ganz offensichtlich ist der MIV nicht etwa auf Kosten des ÖV so stark angestiegen. Vielmehr ist auch der ÖV angestiegen, wenn auch viel weniger als der MIV.

·       Der MIV wäre ganz sicher viel weniger angestiegen, wenn keine Straßen gebaut worden wären. Der Straßenbau muss also einen deutlichen Einfluss auf das Verkehrswachstum haben. Diese banale Tatsache ist jedoch der konservativen Verkehrswissenschaft unbekannt. Bei Prognosen für konkrete Straßenprojekte wird unterstellt, dass der Verkehr völlig unabhängig vom Straßenbau zunimmt. Dieses eigenartige Gedankengut liegt auch dem Bundesverkehrswegeplan zu Grun­de.

 

 

3.     Neue Straßen erzeugen neuen Verkehr

 

Der Verkehr wird nicht nur dadurch schneller und damit mehr, dass von langsameren auf schnellere Verkehrsmittel übergewechselt wird, sondern auch dadurch, dass der Autoverkehr durch neue Straßen beschleunigt wird.

 

Genau so, wie jemand, der vom Fahrrad auf das Auto umsteigt, dadurch in der Lage ist, weiter entfernte Orte aufzusuchen, kann ein Autofahrer, weiter entfernte Ziele aufsuchen und langfristig auch seinen Wohnort weiter entfernt vom Arbeitsplatz wählen, wenn er in den Genuss einer neuen, schnellen Straße kommt (bei schnellen  Schienenverbindungen ist es genau so). Mit den höheren Geschwindigkeiten wird ja der Straßenbau begründet. Statt von höheren Geschwindigkeiten zu sprechen, verwenden die Verkehrsplaner den Begriff „bessere Er­reich­­barkeit“ und ignorieren im übrigen, dass dadurch der Verkehr mehr wird. Aber sie haben einen Fachausdruck für den durch Straßenbau entstehenden zusätzlichen Verkehr: induzierter Verkehr.

 

Der induzierte Verkehr ist – neben dem Eingriff in die Landschaft – die wichtigste Wirkung des Straßenbaus.

 

Beispiel für die überschlägige Ermittlung des induzierten Verkehrs: Eine Ortsdurchfahrt wird durch eine großzügig trassierte Umgehungsstraße entlastet, wodurch 20000 Pkw pro Tag durchschnittlich 6 Minuten pro Fahrt sparen (der Güterverkehr sei hier ausgeklammert). Dadurch entsteht zunächst eine Zeiteinsparung von 2000 Pkw-Stunden. Wie oben erläutert „reinvestieren“ die Autofahrer die so gewonnene Zeit wieder in den Verkehr. Es wird Verkehr induziert. Wenn man für den induzierten Verkehr vereinfachend eine Geschwindigkeit von 50 km/h und einen Treibstoffverbrauch von 10 Litern/100 km unterstellt, so ergibt sich als anschauliches Maß für den induzierten Verkehr ein Treibstoffverbrauch von 10000 Litern pro Tag. Offensichtlich ist dies viel.

 

Zu beachten ist, dass nicht nur die Autofahrer, die eine neue Straße benützen, schneller fahren können, sondern auch die Autofahrer, die auf der alten, vom Durchgangsverkehr entlasteten, Ortsdurchfahrt fahren. Auch dadurch wird Verkehr induziert. Dieser Effekt ist auch der Grund, warum die Entlastung von Ortsdurchfahrten immer geringer als versprochen ist. Denn die normalen Verkehrsplaner berücksichtigen ja bei den Prognosen den induzierten Verkehr nicht. In der Gesamtbilanz wird durch Straßenbau die Situation immer schlechter.

 

 

4.     Verkehrsprognosen sind meistens falsch

 

Bei der Ermittlung der verkehrlichen Wirkungen eines Straßenprojekts wird üblicherweise der induzierte Verkehr unterschlagen. Deswegen kommen Verkehrsplaner zu der abenteuerlichen Behauptung, durch Straßenbau würde der Treibstoffverbrauch weniger werden (siehe dazu auch 5.). Wie oben überschlägig ermittelt, steigt der Treibstoffverbrauch durch Straßenbau.

 

Auch Nutzen/Kosten-Analysen von Straßenprojekten, bei denen der induzierte Verkehr unterschlagen wird, kommen zu falschen Ergebnissen. Falsch ist auch die Basis der Bundesverkehrswegeplanung. Im Rahmen der Erarbeitung des BVWP müsste ermittelt werden, wie stark der Treibstoffverbrauch und die Emissionen durch den Straßenbaus zunehmen. Dies wird unterlassen.

 

5.     Die „optimale“ Geschwindigkeit

 

Weit verbreitet ist die Ansicht, bei niedrigen Geschwindigkeiten wären Treibstoffverbrauch und Emissionen des Autoverkehrs besonders hoch. Es wird geschlussfolgert, aus Gründen des Umweltschutzes müsse der Verkehr „verflüssigt“ werden. Dabei wird auf das Verbrauchsdiagramm Bild 2 verwiesen. In der Tat liegt bei diesem Diagramm das Verbrauchsoptimum bei 50 bis 80 km/h.

 

Bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten ist der Verbrauch sehr hoch. So betrachtet sinkt der Treibstoffverbrauch, wenn der Verkehr im unteren Geschwindigkeitsbereich beschleunigt wird. Deswegen können Straßenplaner zu der falschen Aussage kommen, durch Straßenbau würde der Treibstoffverbrauch sinken.

 

Das Diagramm (Bild 2) ist zwar richtig. Es ist jedoch methodisch falsch, es so zu verwenden. Denn die Autofahrer legen ja nicht eine bestimmte Strecke zurück, sondern sie sind eine bestimmte Zeit pro Tag unterwegs (konstantes Reisezeitbudget). Deswegen muss das Diagramm Bild 3, welches den auf die Zeit bezogenen Treibstoffverbrauch darstellt, herangezogen werden.

 

Es zeigt sich, dass der Treibstoffverbrauch bei genau 0 km/h am geringsten ist.

 

Staubeseitigung ist also – im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung – kein Beitrag zum Umweltschutz

 

Dass das Problem nicht die niedrigen, sondern die hohen Geschwindigkeiten sind, kann auch daraus ersehen werden, dass nach einer Untersuchung des Wuppertal Instituts im Geschwindigkeitsbereich in Stausituationen nur 2,3 % des Treibstoffs verbraucht wird und nur 2,2 % der Stickoxide emittiert werden.

kg/100 km

 
 


km/h

 

Bild 2. Streckenspezifischer Treibstoffverbrauch eines typischen Pkw in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit

kg/h

 
 


km/h

 

Bild 3. Zeitspezifischer Treibstoffverbrauch eines typischen Pkw in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit

 

 

6.     Verkehrsmengenneutraler Straßenbau

 

Man könnte Straßen so bauen, dass die Umweltsituation nicht schlechter wird. Dies könnte dadurch erreicht werden, dass es für die Autofahrer durch den Neubau zu keinen Zeitgewinnen kommt.

 

Um dieses Ziel zu erreichen, müsste eine neue Straße für möglichst geringe Geschwindigkeiten trassiert werden. Die zu entlastende Ortsdurchfahrt müsste wirkungsvoll entschleunigt werden (Geschwindig­keitsdämpfung). Zusätzlich müssten andere Straßen entschleunigt werden, damit es per Saldo keine Geschwindigkeitsgewinne für den Autoverkehr gibt. Quelle: Wie wehrt man sich gegen überzogenen Straßenbau? – Das Phänomen Verkehr. Veröffentlichungen des Landesnaturschutzverbandes Baden-Württemberg, Nr. 21, Stuttgart 1998 (2. Auflage).

7.     Die falschen Konzepte gegen die Autoflut

 

An der verkehrspolitische Diskussion beteiligen sich viele, die das Phänomen Verkehr nicht verstehen oder nicht verstehen wollen oder dürfen. Deswegen sind die empfohlenen Rezepte gegen die Autoflut meist falsch.

 

Dass Straßenbau nicht zu einer Verbesserung sondern zu einer Verschlechterung der Umweltsituation führt, wurde bereits gezeigt.

 

Weit verbreitet ist die Forderung, den ÖV zu fördern um den MIV zu verringern. Ein Blick auf Bild 1 zeigt, wie wenig aussichtsreich dieses Unterfangen ist. Die Auswirkungen des ÖV auf den MIV werden in der politischen Diskussion überschätzt. Es liegen keine Untersuchungen vor, die einwandfrei belegen, dass Maßnahmen zur Förderung des ÖV je zu einer Verringerung des MIV geführt hätten.

 

Der Schuss kann nach hinten raus gehen. Wenn sich durch Verlagerung vom MIV zum ÖV die Staus verkürzen, sparen die auf der Straße verbliebenen Autofahrer unter Umständen so viel Zeit, dass der dadurch induzierte Verkehr mehr ist, als das, was vom MIV zum ÖV verlagert wurde.

 

Von vielen Seiten wird gefordert, das Autofahren teurer zu machen. Da der Autoverkehr, insbesondere der Güterverkehr, die staatlichen Ausgaben für das Straßenwesen und die Folgekosten (externe Kosten) nicht voll trägt, ist diese Forderung naheliegend. Die Auswirkungen von Benzinpreiserhöhungen auf die Fahrleistung werden jedoch überschätzt. Wichtiger ist die langfristige Wirkung: es werden sparsamerer Fahrzeuge hergestellt und gekauft.

 

Falls Mehreinnahmen in den Straßenbau gesteckt werden, hat eine Verteuerung des Autofahrens sogar das Gegenteil der gewünschten Wirkung.

 

Weit verbreitet ist die Auffassung, man müsse die Funktionen Wohnen, Arbeiten, Einzelhandel, Freizeit und so weiter näher zusammen bringen, um Verkehr zu vermeiden. Hier wird Ursache und Wirkung verwechselt. Die schnellen Verkehrsmittel haben ja erst dazu geführt, dass sich die Funktionen „entmischt“ haben. Den Wunsch, ferne Ziele zu erreichen, hatten die Menschen schon immer. Aber erst seit die Möglichkeit besteht, ferne Ziele schnell zu erreichen, fahren die Menschen in großer Zahl dort hin.

 

8.     Wie lässt sich die Autoflut bremsen?

 

Da das Verkehrswachstum eine Folge der Beschleunigung ist, muss das Ziel einer ökologischen Verkehrspolitik die Umkehrung, nämlich die Entschleunigung, sein.

 

Der Autoverkehr muss langsamer gemacht werden. Die Stadt der kurzen Wege ist die Stadt der langsamen Wege.

 

Wenn der Öffentliche Verkehr ausgebaut wird, müssen die parallel verlaufenden Straßen entschleunigt werden. Andernfalls ist die Förderung des Öffentlichen Verkehrs kein Beitrag zum Umweltschutz.

 

Entschleunigung des Autoverkehrs führt hauptsächlich dazu, dass näher gelegene Ziele aufgesucht werden. In Ballungsräumen, bei Fahrten in die Innenstädte, wird aber auch ein Teil des Autoverkehrs auf den Öffentlichen Verkehr umsteigen. Es kann sinnvoll sein, dafür zusätzliche Kapazitäten in Bussen und Bahnen anzubieten.

 

Der Autoverkehr kann nicht nur durch Tempolimits, Straßenrückbau und längere Rotzeiten der Ampeln entschleunigt werden. Wirkungsvoll ist es auch, die Wege von der Wohnung zum Parkplatz und vom Parkplatz zum Ziel möglichst lang zu machen. Allerdings darf man nicht über`s Ziel hinaus schießen. Wenn es bei den kleinen Einzelhandelsbetrieben keine Parkplätze gibt, fahren die Autofahrer zu den großen Supermärkten. Der Autoverkehr würde zunehmen.

 

 

9.     Raumstrukturen und Verkehr

 

Wenn attraktive Ziele, z.B. Supermärkte, sich an Autobahnanschlussstellen ansiedeln, so führt das dazu, dass langsame, kurze Fahrten im städtischen Gebiet durch schnelle, weite Fahrten auf der Autobahn ersetzt werden. Wenn neue Wohngebiete weit außerhalb der Städte entstehen, wo es schnelle Verkehrsmittel gibt und die Menschen aus Gegenden, wo der Verkehr weniger schnell war, dort hin ziehen, so nimmt der Verkehr natürlich zu. In diesen Fällen wirkt die Raumstruktur indirekt verkehrs­erzeugend. In erster Linie ist es jedoch die immer schnellere Verkehrs­infrastruktur die immer mehr Verkehr erzeugt.

 

 

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